Ein in der bisherigen kriminologischen Forschung weitgehend vernachlässigtes Thema ist das Vortäuschen von (§ 145 d StGB) und die falsche Verdächtigung wegen (§164 StGB) Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen - obwohl es sich dabei nicht um ein Problem handelt, das erst in der letzten Zeit an Aktualität und Relevanz gewonnen hätte. (...)
Der Problembereich Vortäuschen / falsche Verdächtigung gehört zu den Themen der Kriminologie, die aus einer ganzen Reihe von Gründen äußerst sensibel behandelt werden müssen:
Anzeigen wegen des Vortäuschens von Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen oder der falschen Verdächtigung wegen dieser Delikte werden von der Polizei relativ selten an die Staatsanwaltschaft abgegeben.
Dies steht zunächst im Widerspruch zur Einschätzung der in den für Sexualdelikte zuständigen Kommissariaten der Kriminalpolizei beschäftigten Beamtinnen und Beamten, die teilweise von einer sehr hohen Quote an Vortäuschungen / falschen Verdächtigungen ausgehen, ohne dabei allerdings auf Forschungsergebnisse oder selbst erhobene Daten zurückgreifen zu können. So äußerte ein Kommissariatsleiter im Zusammenhang mit unserer Aktenanalyse:
„Alle Sachbearbeiter von Sexualdelikten sind sich einig, dass deutlich mehr als die Hälfte der angezeigten Sexualstraftaten vorgetäuscht werden. Viele angezeigte Fälle lassen zwar die Vermutung einer Vortäuschung bzw. falschen Verdächtigung zu, berechtigen jedoch nicht zu einer entsprechenden Anzeige.“
Bezug genommen wird hier auf die Vorgänge, bei denen auch nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen nicht unerhebliche Zweifel an den Aussagen des angeblichen Opfers bestehen bleiben. Ein Tatnachweis für ein Vortäuschen oder eine falsche Verdächtigung ist aber insbesondere deshalb meist nicht zu führen, weil ein Geständnis des angeblichen Opfers nicht vorliegt. Trotz vieler Inkonstanzen in den Zeugenaussagen und dem Vorliegen weiterer Kriterien, welche die Glaubwürdigkeit in Frage stellen, bleibt letztendlich die Aussage des angeblichen Opfers neben der des von ihm Beschuldigten stehen; andere Personen- oder Sachbeweise liegen in ausreichender Beweiskraft in der Regel nicht vor. Anzeige erstattet wird in diesen Fällen fast ausschließlich wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung und nicht wegen Vortäuschens oder falscher Verdächtigung. (...)
Aus Sicht der ermittelnden Polizei-/Kriminalbeamten muss bei Vorgängen, die als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung angezeigt werden, selbstverständlich immer auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass es sich um ein Vortäuschen oder eine falsche Verdächtigung handeln kann. Der Sachbearbeiter bewegt sich zwischen einer Frau, deren tatsächliche Viktimisierung erst widerspruchsfrei festgestellt werden muss, und einem Mann, für den die Unschuldsvermutung gilt, solange er nicht zweifelsfrei überführt werden kann. Die persönlichen Berufserfahrungen aus selbst bearbeiteten Fällen, die sich im Nachhinein als Vortäuschung oder falsche Verdächtigung herausgestellt haben, und der Austausch mit Kollegen über deren Erfahrungen bergen die Gefahr des Entstehens einer übertriebenen „professionellen Skepsis“, eines mit Vorurteilen verbundenen Misstrauens, in sich. Dies kann dazu führen, dass die Sachverhaltsschilderungen der Opfer tatsächlicher Vergewaltigungen oder sexueller Nötigungen in einer Form in Frage gestellt werden, die ein ohnehin durch die Sexualstraftat bereits psychisch hoch belastetes Opfer weiter schädigt, anstatt es bei der Bewältigung der Tatfolgen zu unterstützen. Hier ist viel psychologisches Einfühlungsvermögen gefragt, um eine sekundäre Viktimisierung durch die Art und Weise der polizeilichen Ermittlungen zu vermeiden; dies gilt natürlich auch für die Justiz im weiteren Verlauf des Verfahrens.
Während die schwerwiegenden psychischen und sozialen Folgen von Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen für die Opfer bereits Gegenstand verschiedener Untersuchungen waren, fehlen Erkenntnisse über die Auswirkungen auf das weitere Leben der zu Unrecht einer derartigen Sexualstraftat Beschuldigten. Die Datengrundlagen unseres Projektes lassen empirisch fundierte Aussagen zu diesen Fragestellungen leider auch nicht zu. Das Zitat des Philosophen Plutarchos von Chaironeia „semper aliquid haeret“ - (verleumde nur frech:) es bleibt immer etwas hängen - dürfte die Folgen, die sich aus falschen Verdächtigungen für die davon betroffene Person ergeben können, ganz gut beschreiben.
Aus einigen der von uns analysierten Akten ließen sich Probleme erkennen, die noch näher untersucht werden müssten, beispielsweise:
• die gestörte Vertrauensbasis in partnerschaftlichen Beziehungen und zum engeren sozialen Umfeld,
• das Misstrauen oder auch die dauerhafte soziale Ausgrenzung im Bekannten- und Freundeskreis, im beruflichen Umfeld oder der Nachbarschaft,
• die Auswirkungen auf die Entscheidungen von Behörden (z. B. Polizei, Jugendamt, Vormundschaftsgericht),
• die Verunsicherung bei der Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht,
• das Entstehen eines generell negativen Frauenbildes beim falsch Verdächtigten.
Besonders schwierig für die betroffene Person und dessen soziales Umfeld sind die Fälle, in denen das Verfahren wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung nicht mit einem Freispruch wegen erwiesener Unschuld durch ein Gericht endet. Wenn trotz ganz erheblicher Zweifel an der Schilderung des Tatherganges durch das angebliche Vergewaltigungs- oder Nötigungsopfer von der Staatsanwaltschaft das Verfahren gem. § 170 II StPO eingestellt werden muss, weil weitere Indizien oder Tatzeugen fehlen, Aussage gegen Aussage steht und ein Tatnachweis mit der für eine Verurteilung ausreichenden Sicherheit nicht zu führen ist,
befindet sich der fälschlich beschuldigte Mann in einer ähnlich schutz- und hilflosen Lage wie eine vergewaltigte Frau. Er kann die erhobenen Vorwürfe nicht vollständig widerlegen, ein Restverdacht bleibt.