Die Grünen sehen sich als die besseren Menschen. Sie stehen auf der Seite der Opfer, sie schützen die Frauen, die Kinder, die Ausländer, die bedrohten Lurche und die ausgebeutete Natur. Und nun werden sie plötzlich mit Kinderschändern in Verbindung gebracht. Dies sei eine "Schmutzkampagne" der Union, schimpft Trittin, und man kann seine Empörung sogar ein wenig verstehen. Die Grünen hatten von den Medien bisher nicht viel zu befürchten gehabt. Die Kindersex-Vergangenheit und andere Leichen im Keller der Partei – wie die Sympathien vieler prominenter Gründerfiguren für Terror, Stadtguerilla und stalinistische Massenmörder – waren ein offenes Geheimnis. Dass darüber kaum geschrieben wurde, hat damit zu tun, dass die meisten Journalisten mit Rot-Grün sympathisieren. Und wer es trotzdem wagte, diese Geschichten auszugraben, wurde wie die Publizistin Bettina Röhl als psychisch und charakterlich angeschlagene Person abqualifiziert. Die Tochter von Ulrike Meinhof hatte Joschka Fischers Zeit als rabiater Frankfurter Politschläger enthüllt und schon vor zwölf Jahren auf Cohn-Bendits sexualpädagogischen Abirrungen aufmerksam gemacht.
Die Pädophilie-Debatte hat Münsters Grüne jetzt mit voller Wucht getroffen. Die Partei räumte am Donnerstag ein, im Kommunalwahlprogramm 1984 eine Legalisierung einvernehmlicher sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert zu haben.
Die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach legte Beck den Rückzug nahe. Beck habe den Bundestag "auf meine Fragen hin mehrfach glatt belogen". Als menschenrechtspolitischer Sprecher seiner Fraktion habe er sich daher "disqualifiziert", schreibt Steinbach bei Twitter. Auch die Junge Union reagierte über den Kurznachrichtendienst: "Wer die Morallatte so hoch legt wie @Volker_Beck, kann am Ende drunter herspazieren", schreibt der CDU-Nachwuchs.
Empörung auch bei der FDP: "Jetzt ist Euer bigotter Volker Beck aber wirklich dran", schreibt der liberale Bundestagsabgeordnete Hans-Joachim Otto bei Facebook. Er müsse "sofort seine Kandidatur zurückziehen und sich für seine Lüge und vor allem für seine instinktlose Forderung nach straffreiem Missbrauch von Kindern öffentlich entschuldigen". Rückendeckung für Beck kommt hingegen von den Berliner Grünen.
Es wird – so kündigen die Historiker bereits an – nach der Wahl weitere, erschütternde Enthüllungen aus der pädophilen Verstrickung geben. Über kurz oder lang werden die Grünen eine menschlichere, eine andere Haltung und Sprache zu den Vorgängen finden müssen. Denn der Skandal droht nicht nur die Karriere Trittins zu beenden, er könnte zur "Kernschmelze" (FAZ) oder zum "Desaster" (Spiegel) der Grünen als Bewegung werden. Er untergräbt nämlich genau das, worauf bei dieser Partei so viel gebaut ist: eine demonstrative Moral.
Das wird das Image der Grünen verändern. Denn sie haben sich als Besser-Partei überholt. So, wie die SPD sich in ihrem Kampf für Arbeitnehmerrechte in Teilen zu Tode gesiegt hat, ist die grüne Partei mit ihrem Umbau der Gesellschaft fertig. Schon die wachsende Ablehnung der grünen Ver- und Gebote, von denen der Veggie-Day nur der letzte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte, zeugt davon, dass die Menschen es leid sind, an die Stelle der alten Tabus neue gesetzt zu bekommen. Die Grünen haben als gesellschaftliche Erneuerer ausgedient.
Unverzeihlich (..) ist vor allem, dass mit dem grünen Selbstverständnis der Gedanke nicht vereinbar ist, es könne Opfer der eigenen Politik geben. Eine pragmatisch agierende und moralisch weniger hochgestimmte Partei hätte angesichts des Pädophilie-Skandals schon längst eine Anlaufstelle für Opfer eingerichtet – allein schon, um zu erfahren, ob und inwieweit ihre Politik denn eigentlich Opfer produziert hat. Die Grünen aber wirken erstarrt in moralisierendem Größenwahn, der unvermittelt schwankt zwischen dem standesgemäßen Versprechen der rückhaltlosen Aufarbeitung und der herrischen Forderung, dass es doch jetzt endlich einmal gut sein müsse mit diesem Skandälchen.
Das Problem der Grünen ist also nicht, dass sie eine Partei sind wie alle anderen. Ihr Problem ist, dass sie das nicht anerkennen können.