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"Das vergessene Geschlecht"
Auch SPIEGEL-Online hat die Jungenkrise entdeckt. Der zuständige Journalist Henning Engeln kommt aber weder an dem wohl überstrapaziertesten Sprachklischee dieses Jahrzehnts vorbei, noch daran, die aktuelle Debatte in die altbekannten Strukturen von minderwertigen Männern und unterdrückten Frauen zu zwängen. Zwei der schönsten Passagen des SPIEGEL-Artikels:
Hat sich die Gesellschaft zu sehr auf die Förderung von Mädchen konzentriert und dabei die Jungen vergessen? Oder berührt das Problem viel grundsätzlichere Fragen? Denn das, was einst als typisch männlich galt, scheint heute nicht mehr zeitgemäß zu sein - weil sich die Gesellschaft gewandelt hat. Vielleicht ist das früher "starke" Geschlecht einfach nicht flexibel genug, um sich an die moderne Welt anzupassen. Mehr noch: Womöglich sind Männer aufgrund ihrer archaischen biologischen Ausstattung dazu gar nicht in der Lage. Dann wären sie sozusagen ein Auslaufmodell. (…) Sind die Frauen also in modernen Zeiten die überlegene Variante des Homo sapiens? Können sie nun ihre Qualitäten ausspielen, nachdem die Jahrtausende währende Unterdrückung durch die Männer fast vollständig überwunden ist? (…)
Bei allen Schwierigkeiten der kleinen Männer darf ohnehin eines nicht vergessen werden: Frauen sind längst nicht überall im Vorteil, vor allem nicht später im Leben. So haben fünf Jahre nach Beendigung des Studiums mehr Männer als Frauen eine Arbeitsstelle, obwohl anfangs mehr Studentinnen als Studenten an den Start gingen. Und der weibliche Anteil bei den erfolgreichen Promotionen liegt deutlich unter 50 Prozent. Auch wenn es ums Geld geht, herrscht noch lange keine Gleichheit: Im Jahr 2005 verdienten weibliche Angestellte durchschnittlich 29 Prozent weniger Geld als ihre männlichen Kollegen. Selbst für vergleichbare Tätigkeiten bekamen Frauen ein um 17 Prozent geringeres Gehalt als Männer. Klaudia Schultheis formuliert es so: "Wenn Jungen die Schule erst einmal durchlaufen haben, stellen sich ihnen keine Probleme mehr."
Den Quatsch aus dem letzten Absatz lasse ich mal unkommentiert stehen; dazu habe ich andernorts schon sehr viel geschrieben. Das eigentlich Faszinierende an diesem Artikel ist, dass er trotz seiner endlosen Geschwätzigkeit die wichtigsten aktuellen Erkenntnisse konsequent ausblendet – zum Beispiel, dass es keine private Spekulation ist, wenn ein Entwicklungspsychologe wie Wassilios Fthenakis davon spricht, dass Jungen für die gleiche Leistung schlechtere Noten erhalten, sondern dieses seit über zehn Jahren in verschiedenen Studien (LAU, IGLU) erwiesen wurde. Hier traut sich Henning Engeln eins ums andere Male nicht, die Fakten klar zu nennen, sondern versteckt sich hinter vermutendem Geraune und würzt seinen Sermon ordentlich mit misandrischen Versatzstücken. Aber vielleicht ist soviel ideologische Anbiederung ja nötig, um auf SPIEGEL-Online überhaupt zur Jungenkrise schreiben zu dürfen.
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